Stellungnahme des Vorsitzenden der Martin-Heidegger-Gesellschaft
4. Wege
Das Problem, das Heideggers Gegner unerledigt liegen lassen, liegt offenkundig in der Frage einer zureichenden Interpretation. Was bedeutet es überhaupt, Heideggers Denken nachzuvollziehen, ohne solche und andere Texte zu ignorieren? Hat dies Folgen für die seinsgeschichtliche Interpretation jenes Denkens? Lässt sich am Ende daraus (wie der Herausgeber der Schwarzen Hefte meinem Urteil zufolge irrigerweise meint) die Seinsgeschichte überhaupt konstruieren – ein Denken, das dann im Ganzen der perversen Ideologie des Nationalsozialismus verpflichtet wäre? Wie könnten aber aus dieser Sicht Heideggers spätere Gedanken über die Kunst, über den Raum und die Plastik ohne Verdrängungen (die sich meiner Auffassung zufolge leicht nachweisen lassen, mit oder ohne Zuhilfenahme der Psychoanalyse) sinnvoll nachvollzogen werden? Ich kann nach eingehender Prüfung keinen inneren Zusammenhang zwischen den in Frage stehenden Bemerkungen in den Schwarzen Heften und dem „Mythos der jüdischen Weltverschwörung“ erkennen.
Nichts ist unwürdig, diskutiert zu werden, auch nicht die zuletzt wieder ins Spiel gebrachten Editionsprinzipien der Gesamtausgabe. Im Zeichen wissenschaftlicher Redlichkeit stelle ich mir die Frage nach den Aufgaben und Möglichkeiten einer sachgerechten Interpretation von Heideggers Schriften. Dies muss nicht bedingungslos den Prämissen seines eigenen Auslegungsverfahrens folgen. Auch auf Interpreten, die ihm nahestanden, ohne mit ihm einig zu sein, ist zu hören – ich denke an Germanisten wie Max Kommerell, Emil Staiger oder Beda Allemann: Sie bringen Beispiele einer offenen, die Unterschiede austragenden Diskussion; mit Philologen aus älterer und neuerer Zeit wie Hermann Diels (1896), A. H. Coxon (2009) oder Riccardo Di Giuseppe (2011) kann ein solches Verfahren mit Blick auf Heideggers Auslegung des frühen griechischen Denkens neue und fruchtbare Erkenntnisse bringen.
All diese Überlegungen sind zentrales Thema der nächsten Tagung der Heidegger-Gesellschaft, die vom 5. bis 8. Mai 2016 in Wien stattfinden wird.
Ich wünsche mir ein Gespräch, das sich aller Vorurteile (im herkömmlichen Sinne) enthält und sich der unvermeidlichen Vor‑urteile (Hans-Georg Gadamer) bewusst ist. Nichts soll verharmlost werden, nichts aber auch nur deshalb bekämpft, weil es von Heidegger stammt.
Helmuth Vetter