Stellungnahme des Vorsitzenden der Martin-Heidegger-Gesellschaft
3. Zu den Aussagen über „die Juden“ in den Schwarzen Heften
Ich plädiere für genauere Unterscheidungen. 1. Gehören alle Hinweise auf „die Juden“ zum „Antisemitismus“, oder sollte dieser nicht doch auch differenzierter bestimmt werden? Und gibt es zwischen diesen Stellen und Heideggers seinsgeschichtlichem Denken einen inneren Zusammenhang?
Soweit ich sehe, zerfällt aus historischer Perspektive der Antisemitismus in zwei Richtungen: in die des Antijudaismus und die des Antisemitismus im engeren Sinn. Jener wurzelt in der Auseinandersetzung zwischen Christen- und Judentum – ein Kampf zwischen Kirche und Synagoge; dieser ist ein Produkt des 19. Jahrhunderts und gründet sich auf die vorgebliche Überlegenheit einer Rasse, der „Arier“ (ursprünglich ein neutraler Begriff der Sprachwissenschaft). Freilich sei damit keineswegs einer Nivellierung das Wort geredet: Hier wie dort kommt es über bloße Schuldzuweisungen hinaus (die allein schon schlimm genug sind) zu schrecklichen Folgen: Die Unterstellungen, Juden hätten Ritualmorde begangen, Hostien geschändet oder Brunnen vergiftet finden ihren grausigen Höhepunkt in ungezählten Pogromen.
Ein rassisch begründeter Antisemitismus lässt sich bei Heidegger nicht nachweisen, doch auch für Anzeichen von Sympathie für mögliche Folgen des Antijudaismus finden sich in den Schwarzen Heften nicht sehr viele (wenngleich recht üble) Belege (z. B. GA 95, 326; GA 96, 262).
Wichtig erscheint mir, dass die Schwarzen Hefte Aussagen von unterschiedlicher Textualität enthalten: 1. private Äußerungen, die aus heutiger Sicht mehr als bloß irritieren (z. B. GA 96, 262); 2. Texte mit philosophischem Gehalt. Im ersten Fall mache ich die unterschwellige Mitwirkung des antijudaischen Milieus (das Heidegger als existenzielle Vorgabe nie eigens eingehend bedacht hat) dafür verantwortlich; im zweiten Fall gehören solche Texte zu Heideggers Deutung der Geschichte der Metaphysik und sind somit seinsgeschichtlich zu verorten. Dass daraus keine Verbindung aller auf „die Juden“ bezogenen Stellen mit Heideggers Seinsgeschichte konstruiert werden kann, ist meine feste Überzeugung, die ich hier anhand von Details freilich nicht weiter begründen kann – nur dies:
„Die Juden“ sind insofern durch das „rechnende Denken“ geprägt, als sie zur Einrichtung der ratio gehören. Dies trifft aber aus Heideggers Sicht auf alle Philosophen der Neuzeit zu, von Descartes bis Nietzsche. Eine Stelle aus den Beiträgen zur Philosophie mag dies illustrieren: „Der reine Blödsinn zu sagen, das experimentelle Forschen sei nordisch-germanisch und das rationale dagegen fremdartig! Wir müssen uns dann schon entschließen, Newton und Leibniz zu den ‚Juden‘ zu zählen.“ (GA 65, 163) Doch ein weiteres Moment darf keinesfalls übergangen werden (und dies ist nicht selten der Fall), dass nämlich die verrechende Haltung des Denkens „mit der Vorherrschaft des Christentums als einem Prinzip der Gestaltung der ‚Welt’“ beginnt (GA 51, 6).
Gerade der zuletzt erschienene Band der Gesamtausgabe zeigt die enge (freilich noch sehr diskussionsbedürftige) Verbindung von Juden- und Christentum. Wiederum sei dies durch ein Zitat verdeutlicht: „,Prophetie‘ ist die Technik der Abwehr des Geschicklichen der Geschichte. Sie ist ein Instrument des Willens zur Macht. Daß die großen Propheten Israels Juden sind, ist eine Tatsache, deren Geheimes noch nicht gedacht worden.“ (Diese „Juden“ gehören offenbar nicht zur Metaphysik und sind daher auch nicht der entsprechenden Kritik ausgesetzt.) Heidegger bemerkt dazu in Klammern (und erinnert an Nietzsche): „Anmerkung für Esel: mit ‚Antisemitismus‘ hat die Bemerkung nichts zu tun. Dieser ist so töricht und so verwerflich, wie das blutige und vor allem unblutige Vorgehen des Christentums gegen ‚die Heiden‘. Daß auch das Christentum den Antisemitismus als ‚unchristlich‘ brandmarkt, gehört zur hohen Ausbildung der Raffinesse seiner Machttechnik.“ (GA 97, 159) Vielleicht wäre es gar nicht so übel, im Ausgang von dieser Stelle Heideggers Aussagen über „die Juden“ umfassend zu interpretieren, ohne den engen Zusammenhang von Juden- und Christentum zu vernachlässigen.
Über Heideggers Unbefangenheit gegenüber jüdischen Kolleg_innen sowie Schüler_innen ist hier nicht viel zu berichten; sie ist genügend bekannt. Nur ein Beispiel: Wer hatte noch 1933 einen Assistenten (ich meine Werner Brock), der den Rassegesetzen zufolge „Halbjude“ war und nach seiner Emigration nach England von Heidegger weiterhin unterstützt wurde? Förderungen dieser Art sind auch für andere Emigrantinnen und Emigranten belegt.
Beim Umgang mit den Schwarzen Heften haben sich Heideggers Gegner (soweit ich deren Aussagen kenne) so gut wie ausschließlich auf jene Stellen bezogen, die von „den Juden“ handeln. Die Vielfalt sonstiger Äußerungen Heideggers (nicht zuletzt sein Ringen um ein rechtes Verstehen von Sein und Zeit bei einer immer radikaler werdenden Überprüfung der eigenen Position) scheint ihnen gleichgültig zu sein. Ihre Fokussierung auf ein einziges Thema (trotz dessen Bedeutung) begründen sie aber nicht eigens.