Gedenkworte auf Dr. Hermann Heidegger (1920-2020)
Ein großer Name ist Erbe, und er kann Belastung sein. Mit dieser Erbschaft würdig und kraftvoll umzugehen, das überragende Vermächtnis eines Weltphilosophen aus der besonderen Affinität der Familie in den gebührenden Rang der Öffentlichkeit zu heben, bedeutet eine große Verantwortung. Dies verlangt Klugheit, tiefe Empathie, Kenntnis, Geschick und Mut, nicht zuletzt auch Hingabe und eine Liebe, die objektivieren kann. Über all diese Eigenschaften verfügte Hermann Heidegger in einer staunenswerten und souveränen, bewundernswerten Weise.
1920 geboren, umfasst sein Leben fast ein Jahrhundert: das Jahrhundert der Extreme, der schmerzlichen Brüche und zugleich das Jahrhundert großer geistiger Ausblicke und Perspektiven, zu denen nicht zuletzt das Vermächtnis seines Vaters beitrug. Wenn einer der großen Alten geht, so geht auch ein Stück des vergangenen Zeitalters. Der Tod Hermann Heideggers ist eine tiefe Zäsur für seine Angehörigen und für die Kenner und Erforscher des Werkes Martin Heideggers.
Von 1985 bis 2015 hatte er den Vorsitz des Kuratoriums der Martin-Heidegger-Gesellschaft inne. Er hat maßgeblichen Anteil an deren Gründung und dem Profil, das diese Gesellschaft sich durch ihre Tagungen und Veröffentlichungen erwerben konnte: Zu ihrer internationalen Mitgliedschaft, der Präsenz des Denkens der Sache des Denkens trug er wesentlich bei.
Wann immer ich Hermann Heidegger in der Corona der Heidegger-Forschung erlebte, war er wie der souveräne Regisseur oder Dirigent im Hintergrund, der kongenial die philosophischen Stimmen bündelte und die einzelne Rabies Philosophorum zu kanalisieren und zu relativieren wusste. Bis zuletzt nahm er an den Belangen der Gesellschaft fördernd, interessiert und mit der ihm eigenen Libertät Anteil. Patriarch im schönsten Sinn.
Seit Martin Heideggers Tod 1976 bis in das Jahr 2014 fungierte er als Nachlassverwalter: Die monumentale, Maßstäbe setzende Martin-Heidegger-Gesamtausgabe ging wesentlich auf seine Initiative zurück. Er war es, der seinen Vater von der Notwendigkeit dieser Edition überzeugte. Realisiert wurde sie unter der kongenialen Hauptherausgeberschaft F.-W. von Herrmanns. Die große Anlage der Edition und die mikrologische Entzifferung und Kollationierung betrieb Hermann Heidegger gleichermaßen hingebungsvoll und kenntnisreich. In all diesen Dingen wurde er zum Weisen, zur Instanz. Dadurch schrieb er sich in die Denkgeschichte ein.
Er wurde zu einer Instanz, die mutig und aktiv, mit höchstem Ethos der Wahrhaftigkeit, den Nachlass ihres Vaters zugänglich machte. Die Redlichkeit des an Ranke geschulten Historikers und die strategische Kraft des ehemaligen Offiziers kamen zusammen. Immer wieder, wenn ich ihm in bestimmten Lebensphasen begegnen durfte, als junger Student, Assistent, bis heute, war dieses Ethos der höchsten Integrität und der Löwenkraft seiner Persönlichkeit eine ungemein eindrückliche Erfahrung.
Auch mit Beschwerden des Alters, mit Schmerz und Enttäuschungen ging Hermann Heidegger in dieser selben Tapferkeit und Souveränität um. Stürmen hielt er stand, Zeitgeist-Tendenzen begegnete er – im Wissen, mit einem Werk betraut zu sein, das mit Thukydides’ ktema eis aei ist, Besitz für alle Zeit. Eine großartige Persönlichkeit, wie ein Granit, noch im hohen Alter.
Hermann Heideggers Leben zeugt vielfache, reiche Konstellationen und Begegnungen: Auf der Hütte in Todtnauberg liefen die geistigen Linien zusammen, von Gadamer bis Derrida, Paul Celan, Emmanuel Levinas.
Ich erinnere mich der letzten persönlichen Begegnung in seinem Haus in Stegen im Hochsommer 2016: An das lebendige Gedächtnis an seinen Vater, die Zeugenschaft des Jahrhunderts, in der wie selbstverständlich Edmund Husserl aufschien, und der Bogen der Zeit umspannt wurde.
Nach Platon kann zwischen zwei der tiefsten Tugenden Spannung und Bruch entstehen: zwischen der Tapferkeit (andreia) und der Besonnenheit (sophrosyne). Hermann Heidegger hat diese beiden Tugenden in einzigartiger Weise vereint.
Die Martin-Heidegger-Gesellschaft und alle, denen das Werk Heideggers philosophisch Maßstäbe gesetzt hat, die Heideggers Denken, wie Heribert Boeder einmal sagt, nicht nur manches, sondern philosophisch alles verdanken, verneigen sich in tiefem Dank und in Verehrung vor dem Verstorbenen. Eine Persönlichkeit wie ihn wird man nicht wieder sehen.
Prof. Dr. Harald Seubert